Altersdifferenzierte, ergonomische Analyse eines Arbeitsplatzes –Exemplarisches Anwendungsbeispiel „großflächiger berührungssensitiver Bildschirm“
Altersdifferenzierte Gestaltung von Eingabegeräten
Ein weltweit zu beobachtender Trend ist die Zunahme von Informations- und Kommunikations- Technologien (IuK-Technologien) im privaten sowie beruflichen Bereich. Die durch den Einsatz technischer Systeme veränderten Anforderungen stellen insbesondere für ältere Arbeitnehmer eine neue, häufig schwer zu bewältigenden Aufgabe dar. So wird durch den Einsatz technischer Geräte im Arbeitsalltag eine höhere kognitive Anforderung an den Arbeitnehmer gestellt, welche mit dem vorhanden aufgabenspezifischen Wissen häufig nicht bewältigt werden kann. Altersspezifische Anpassungen der Mensch-Rechner-Schnittstelle an die Bedürfnisse älterer Erwerbstätiger beschreiben in diesem Zusammenhang ein für die Zukunft wichtiges Forschungsfeld.
Ein wesentlicher Faktor bei der Mensch-Rechner-Interaktion spielt das verwendete Eingabegerät. Um Eingabegeräte für die Mensch-Rechner-Interaktion zu gestalten, müssen sowohl die individuellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Präferenzen der Benutzer sowie die informationstechnischen Möglichkeiten der Ein- und Ausgabe von Informationen betrachtet werden (Jacob et al., 1993). Betrachtet man speziell ältere Computerbenutzer, so führt aufgrund der altersbedingten Veränderung des sensomotorischen Systems (Vercruyssen, 1996) die traditionelle Eingabe von Informationen mit der Maus häufig zu Problemen. Dies konnte beispielsweise in Studien von Iwase und Murata (2003), Smith et al. (1999), Riviere und Thakor (1996) sowie Walker et al. (1996) belegt werden. Der Einsatz direkter Eingabegeräte zur Verbesserung der Interaktion von Mensch und Rechner beschreibt somit besonders für ältere Computerbenutzer ein Ansatzpunkt mit hohem Potential (Czaja & Lee, 2007; Grandt et al., 2003; Tobias, 1987).
In eigenen Untersuchungen wurden alternative Eingabegeräte und -methoden (z.B. Touchscreen, Blicksteuerung, Spracheingabe, Eingabe über ein Fußpedal) hinsichtlich Ihrer Eignung speziell für ältere Computerbenutzer analysiert und der Eingabe mit der Maus gegenübergestellt (Jochems et al. 2010). Die Ergebnisse dieser Studien lassen die Schlussfolgerung zu, dass die Mensch-Rechner-Interaktion insbesondere für ältere Computerbenutzer durch den Einsatz alternativer Eingabegeräte ergonomisch optimiert werden kann, wobei sich das direkte Eingabegerät Touchscreen, welches auch von Computernovizen kaum Training erfordert, als für ältere Computerbenutzer besonders geeignet herausgestellt hat. Beim Touchscreen erfolgt die Eingabe direkt über den berührungsempfindlichen Bildschirm (siehe Abbildung 1). So wird die räumliche Trennung von Informationsausgabe und Informationseingabe aufgehoben und die gleichzeitige Informationsdarstellung und erwartungskonforme Manipulation ermöglicht. Es konnte gezeigt werden, dass Altersunterschiede zwischen jüngeren und älteren Benutzern durch den Einsatz eines Touchscreens minimiert werden können.
Abbildung 1: Zwei Probanden bei der Eingabe an einem Touchscreen (Jochems et al. 2010)
Seit Beginn der 1980er Jahre wird an der Technologie zur Erkennung mehrerer Berührungspunkte (Multitouch) geforscht (Mehta, 1982; Buxton, 1985). Diese Technologie bietet den Vorteil, dass vorhandene Software, welche aktuell mit der Maus bedient wird, direkt auf einen berührungssensitiven Bildschirm übertragen werden kann. Das gleichzeitige Erkennen mehrerer Berührungspunkte lässt sich dabei über verschiedene Verfahren (Frustrated Total Internal Reflection (FTIR) oder Kapazitive Sensorik) realisieren. Der großflächige Arbeitsbereich ermöglicht darüber hinaus eine für ältere Benutzer angepasste Darstellung der Informationen. So können bspw. die Darstellung der Schrift vergrößert oder zusätzliche Funktionen eingeblendet werden, ohne dass zusätzliches Scrolling nötig wird (Jochems et al. 2010). Ein berührungssensitiver Bildschirm stellt ein zukunftweisendes Eingabegerät dar, welches insbesondere für ältere Arbeitnehmer geeignet ist.
Andererseits erfordert ein großflächiger Bildschirm vom Benutzer häufiges „Hinlangen“ und „Greifen“ in körperfernen Bereichen und führt zu einer hohen muskulären Beanspruchung infolge einer wiederholten Aktivierung der Halte- und Stützmuskulatur des Schulter-Armsystems. Infolge altersbedingter muskulärer Veränderungen kann die Benutzung eines großflächigen Arbeitsbereiches insbesondere für ältere Benutzer zu einer gesundheitsgefährdenden Beanspruchung führen. Im Rahmen des hier beschriebenen Forschungsprojektes soll ein Arbeitsplatz mit großflächigem Bildschirm insbesondere hinsichtlich der muskulären Beanspruchung analysiert werden. Die ergonomische Auslegung des Arbeitsplatzes soll für ältere und jüngere Erwerbstätige mit Hilfe des AnyBody Menschmodells vorgenommen werden. Dazu wurde in einem ersten Schritt in einer empirischen Studie mit 22 Probanden zwischen 20 und 69 Jahren eine ergonomische Analyse des Arbeitsplatzes mit einem großflächigem Bildschirm vorgenommen.
Aufbau und ergonomische Gestaltung eines Arbeitsplatzes mit berührungssensitivem großflächigem Bildschirm
Der exemplarische Arbeitsplatz, welcher im Rahmen des Forschungsprojektes analysiert werden soll, ist in Abbildung 2 dargestellt. Er besteht aus einem Arbeitstisch und einem großflächigem Bildschirm (77cm*99cm), welcher horizontal auf dem Arbeitstisch liegt. Der Arbeitsbereich des Bildschirms hat eine Abmessung von 65cm*86cm. Bei der ergonomischen Auslegung des Arbeitsplatzes können verschiedene Szenarien bzw. Einstellungsmöglichkeiten unterschieden werden. So kann an diesem Arbeitsplatz sowohl in einer sitzenden als auch in einer stehenden Position gearbeitet werden. Des Weiteren sind unterschiedliche Neigungswinkel des Arbeitsbereiches, d.h. Winkelpositionen zwischen Arbeitstisch und Bildschirm möglich (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Arbeitsplatz mit großflächigem berührungssensitivem Bildschirm (links), Einstellungsmöglichkeiten, Variation des Winkels (rechts)
Zur ergonomischen Gestaltung und Auslegung dieses Arbeitsplatzes wurden in einer empirischen Studie Körperhaltungen, Greifräume und das Komfortempfinden altersdifferenziert analysiert (Jochems 2009, Bützler et al. 2010). Hierfür wurde ein Mockup mit denselben physikalischen Abmessungen wie der „Diamond Touch Display“ verwendet. Als unabhängige Variable wurde die Position des Bildschirms in 3 Stufen (Neigungswinkel: 0°, 8°, 16°) variiert. Darüber hinaus wurde die Höhe des Arbeitstisches angepasst, so dass die Probanden die Experimentalaufgabe im Sitzen und Stehen ausführen konnten.
Als abhängige Variablen wurden die Körperhaltung, der maximale Greifraum sowie das Komfortempfinden bewertet. Die Körperhaltungen der Probanden wurden fotografisch dokumentiert und die entsprechenden Gelenkwinkel der eingenommenen Körperhaltung analysiert. Die maximalen Greifräume des rechten und des linken Arms wurden im Sitzen und Stehen bei den Winkeln 0° und 16° markiert. Mit Hilfe der ZEIS-Skala (Pitrella & Käppler 1988) wurde das subjektive Komfortempfinden (0=sehr unkomfortabel bis 14=sehr komfortabel) in den verschiedenen Arbeitspositionen (0° sitzend, 8° sitzend, 16° sitzend, 0° stehend, 8° stehend, 16° stehend) aufgenommen.
Untersucht wurden 11 jüngere Probanden im Alter von 20-32 Jahren (M=23,82, SD=3,516) und 11 ältere Probanden zwischen 57 und 69 Jahren (M=64,36, SD=3,443). Zu Beginn der Untersuchung wurden demographische Daten sowie relevante anthropometrische Maße (Körpergröße, Armlänge, Griffachse nach vorne) nach DIN 33402-2 ermittelt.
Körperhaltungen bei der Arbeit mit einem großflächigen berührungssensitiven Bildschirm
Die Körperhaltungen der Probanden bei der Arbeit an einem großflächigen Bildschirm können durch die Gelenkwinkel beschrieben werden. Die analysierten Körperhaltungen bieten eine einfache Möglichkeit die mit Hilfe des AnyBody Menschmodells über inverse Kinematik berechnete Körperhaltung hinsichtlich des Faktors „Natürlichkeit“ zu bewerten. Bei der Analyse der eingenommenen Körperhaltungen wird deutlich, dass große interindividuelle Unterschiede, abhängig von den anthropometrischen Daten der Probanden bestehen. Die individuellen Haltungen von je zwei älteren Probanden für die stehende Bedingung bei einem Winkel von 16° und die sitzende Bedingung bei einem Winkel von 8° sind in Abbildung 3 dargestellt. Vergleicht man die beiden Altersgruppen bezüglich ihrer eingenommenen Körperhaltungen, so besteht bei den älteren Probanden eine größere Streuung der anthropometrischen Maße. Bedingt dadurch sind auch die Körperhaltungen der älteren Probanden deutlich heterogener als die der Jüngeren.
Abbildung 3: Unterschiedliche Körperhaltungen bei der Durchführung einer Zeigeaufgabe an einem großflächigen berührungssensitiven Bildschirm (stehend links, sitzend rechts)
Analyse der Greifräume
Zur weiteren ergonomischen Analyse des exemplarischen Arbeitsplatzes mit großflächigem Bildschirm wurden die Greifräume der Probanden betrachtet. Die Aufnahme maximaler Greifräume bei aufrechter Körperhaltung diente der qualitativen Abschätzung des komfortablen Arbeitsbereiches auf dem Display. Hinsichtlich der Greifraumanalysen konnten starke interindividuelle Unterschiede zwischen den Probanden ermittelt werden (siehe Abbildung 4 (rechts)). Abhängig von den anthropometrischen Daten der Probanden können diese in unterschiedlich weit entfernten Arbeitsbereichen auf dem Tisch arbeiten.
Abbildung 4: Darstellung der interindividuellen Unterschiede der Greifräume
Komfortbewertung anhand der ZEIS-Skala
Die Komfortbewertung wurde mittels der ZEIS-Skala für die untersuchten Arbeitspositionen (0° sitzend, 8° sitzend, 16° sitzend, 0° stehend, 8° stehend, 16° stehend) durchgeführt (siehe Abbildung 5). Die Ergebnisse zeigen signifikante Unterschiede zwischen einer sitzenden und stehenden Haltung (F(1,20)=25,466, p=0,000), und zwischen den Neigungswinkeln 0° und 16° sowie 8° und 16° (F(2,40)=7,601, p=0,007 bzw. p=0,006). Zwischen den Altersgruppen liegen keine signifikanten Unterschiede vor. In beiden Altersgruppen wird die Position 0° sitzend am schlechtesten und 16° stehend am besten bewertet.
Abbildung 5: Ergebnisse der Komfortbewertung für eine sitzende (links) und stehende Arbeitshaltung (rechts)
Schlussfolgerungen für die spätere Analyse des exemplarischen Arbeitsplatzes mit Hilfe des AnyBody Menschmodells
Die durch die hier beschriebene empirische Studie ermittelten Ergebnisse können erste Hinweise auf Aspekte und Faktoren liefern, die bei der späteren Analyse des Arbeitsplatzes mit Hilfe des AnyBody Menschmodells, bzw. bei der entsprechenden Adaption des Modells, berücksichtigt werden müssen.
So konnte durch die Analyse der Körperhaltungen eine starke Streuung der Gelenkwinkel in Abhängigkeit der anthropometrischen Maße der Probanden ermittelt werden. Insbesondere die von den älteren Probanden eingenommenen Körperhaltungen und entsprechenden Gelenkwinkel waren deutlich heterogener. Diese individuellen Unterschiede hinsichtlich der anthropometrischen Maße sind bei der späteren Skalierung des AnyBody Menschmodells zu berücksichtigen. Die analysierten Körperhaltungen können darüber hinaus zur Bewertung der mit Hilfe des AnyBody Menschmodells über inverse Kinematik berechneten Körperhaltung sowohl für jüngere als auch ältere Probanden vergleichend herangezogen werden.
Die Analyseergebnisse bezüglich der Greifräume zeigen, dass je nach anthropometrischen Maßen der Probanden und Positionierung des Bildschirms nicht der gesamte Arbeitsbereich des Bildschirms erreicht werden kann. Um in diesen körperfernen Bereichen zu arbeiten, müssen von den Probanden extreme Körperhaltungen eingenommen werden. Häufiges „Hinlangen“ und „Greifen“ in diesen Bereichen führt zu einer hohen muskulären Beanspruchung infolge einer wiederholten Aktivierung der Halte- und Stützmuskulatur des Schulter-Armsystems. Diese sollten bei der Analyse des Arbeitsplatzes mit Hilfe des AnyBody Menschmodell zur Bestimmung der muskulären Beanspruchung fokussiert werden.
Literatur
[Buxton, 1985] Buxton, W. Hill, R. & Rowley, P. (1985). Issues and Techniques in Touch-Sensitive Tablet Input, Computer Graphics, 19(3), 215-224.
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[Vercruyssen, 1996] Vercruyssen, M. (1996). Movement control and speed of behavior. In Fisk A. D. & Rogers W. A. (Eds), Handbook of Human Factors and the Older Adult (pp.55–86). San Diego, CA: Academic Press.
[Walker et al. 1996] Walker, N., Philbin, D.A. & Spruell, C. (1996). The use of signal detection theory in research on age-related differences in movement control. In Rogers, W.A., Fisk, A.D. & Walker, N. (Eds.), Aging and skilled performance. Advances in theory and applications (pp. 45–64). New Jersey, Lawrence Erlbaum Associates.
Den Bericht für Februar finden Sie hier: http://blog-becker-stiftung.de/?p=2660
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