„Stell dir vor, du bist alt und kannst nicht mehr zum Facharzt!“ Mit diesem Satz beschreibt Prof. Dr. Martin Grond, Erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, heute auf der Neurowoche in München das medizinische Versorgungsproblem der älter werdenden Gesellschaft. „Es besteht die Gefahr, dass die Politik und mit ihr auch medizinische Standeskreise mit neuen Geriatriekonzepten eine Zwei-Klassen-Medizin für Alte entwickeln“, so Grond weiter. Ein aktuelles Beispiel ist das Niedersächsische Geriatriekonzept. Im Jahr 2060 wird es nach seriösen Prognosen etwa genauso viele über 80-Jährige geben wie unter 20-Jährige.
Schon seit Jahren spürt die Medizin das überproportionale Nachwachsen alter Patienten in den Kliniken und Praxen. Zudem steigen ab einem Alter von etwa 65 Jahren die Gesundheitskosten pro Einwohner und Jahr deutlich an, ab 80 Jahren schnellen sie regelrecht in die Höhe, verfünffachen sich. Angesichts dieser zunehmenden Belastung gehen die politischen Weichenstellungen derzeit in Richtung eines Konzepts der„Allgemeinmedizinischen Geriatrie“ oder „Inneren Allgemeingeriatrie“, ähnlich einem Konzept des Kinderarztes. Die Neurologie, die bereits heute überwiegend geriatrisch arbeitet, wird in diesen Planungspapieren lediglich als Appendix oder untergeordnete Hilfsdisziplin gesehen. „Dies ist eine politisch äußerst kurzsichtige Blickweise, mit der die Gesundheitskosten noch weiter steigen werden“, sagt Grond.
Demografische Entwicklung – die Vergreisung findet bereits statt
Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsentwicklung nimmt die durchschnittliche Lebenserwartung bis 2060 weiter zu auf 85,0 Jahre (Männer) bzw. 89,2 Jahre (Frauen). Während der Anteil über 80-Jähriger im Jahr 1871 noch unter einem Prozent lag, gehören heute bereits mehr als fünf Prozent der Bevölkerung zu dieser Altersgruppe und bis zum Jahr 2060 wird mit einem Anstieg auf 14 Prozent gerechnet. Das heißt, jeder Siebte wäre im Deutschland des Jahres 2060 mindestens 80 Jahre alt. Damit wäre der Anteil 80-Jähriger und Älterer nur geringfügig niedriger als der der unter 20-Jährigen.
Krankheiten im hohen Alter
Zwei Drittel der Diagnosen alter Menschen sind neurologisch-psychiatrisch, müssen also von Neurologen oder Psychiatern behandelt werden. Sie sind auch auf der Kostenseite der weitaus größte Faktor. Sind in der Altersgruppe zwischen 65 und 80 Jahren 8,8 Prozent der Menschen bereits dement, steigt diese Zahl in der Altersgruppe der 85- bis 89-Jährigen auf 26 Prozent, unter den über 90-Jährigen sind es sogar 41 Prozent. In der Gruppe der 60- bis 69-Jährigen leben 4,2 Prozent der Menschen mit einem Schlaganfall, zwischen 70 und 79 Jahren bereits 7,1 Prozent. Neben Demenzen und dem Schlaganfall leiden alte Menschen häufig an Schwindelsyndromen mit erhöhter Sturzneigung, Schlafstörungen, kognitiven Störungen, Depressionen und Angststörungen, chronischen Sensibilitätsstörungen und vielem mehr.
„Werden alle diese Krankheiten an erster Stelle von erfahrenen Spezialisten behandelt, steigen die Kosten nicht, vielmehr werden sie sinken“, so Grond. Ein richtig behandelter Schlaganfall verhindert oder reduziert Behinderungen, die hohe, jahrelange Pflegekosten bedeuten würden. Die frühzeitig fachgerecht diagnostizierte und therapierte Ursache für Gleichgewichts- oder Gangstörungen – und dafür gibt es Dutzende neurologische Möglichkeiten – kann zahlreiche Brüche verhindern, die bei alten Menschen häufig wieder in die Pflege führen. „Wir müssen aufpassen, dass durch kurzsichtige Kostenkalkulationen nicht Greisenärzte entstehen, die alte Patienten routinemäßig nach Schema F behandeln.“
Aktuelles Beispiel: das Niedersächsische Geriatriekonzept
Das aktuelle Niedersächsische Geriatriekonzept vom 19. Dezember 2013 sieht vor, die Altersmedizin in die Hände der Inneren Medizin zu geben. Im Wortlaut: „Die in niedersächsischen Krankenhäusern vorgehaltenen Kapazitäten für Geriatrie werden im Niedersächsischen Krankenhausplan unter die Fachrichtung Innere Medizin subsumiert.“ Diesem Vorstoß wurde in einer gemeinsamen Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation vom 3. Februar 2014 begegnet. Die Erfahrung zeigt, dass in geriatrischen Reha-Abteilungen 70 bis 90 Prozent der Erkrankungen primär neurologisch sind. Deshalb wurde in einer detaillierten Begründung gegenüber dem Ministerium klargelegt, dass die spezialisierte Behandlung von Alterskrankheiten überwiegend eine neurologische Kompetenz erfordert und damit sowohl die Akutneurologie als auch in der Reha-Neurologie in der Hand des Neurologen liegen muss. Eine Kontaktaufnahme zu einer der beiden Neurologischen Gesellschaften erfolgte bislang nicht.
Neurologen arbeiten bereits geriatrisch
In einer normalen Klinik für Neurologie beträgt der Anteil über 65-jähriger Patienten bereits rund 60 Prozent. Je älter die Patienten, desto mehr Diagnosen sind festzustellen. Sind es bei den 45- bis 65-Jährigen noch durchschnittlich knapp sechs sogenannter Nebendiagnosen, steigen diese bei den über 84-Jährigen auf über neun an. Eine Umfrage unter 204 neurologischen Kliniken aus dem Jahr 2012 hat gezeigt, dass 58 Prozent dieser Häuser Personal mit Zusatzbezeichnung Geriatrie beschäftigt, weitere 29 Prozent standen kurz davor. Gleichzeitig ist die Neurologie das am stärksten wachsende Fachgebiet der Medizin mit einer Zuwachsrate von 6,6 Prozent pro Jahr.
„Die Neurologie muss ihre geriatrische Kompetenz und ihre rasant wachsende Bedeutung in der medizinischen Versorgungslandschaft stärker in die Öffentlichkeit tragen, damit sie auch von der Politik und den Gremien wahrgenommen wird“, so der Erste Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Sonst wird die Altersmedizin eine Zwei-Klassen-Medizin: auf der einen Seite Menschen, die sich mit einem „Allgemeingeriater“ zufriedengeben müssen, auf der anderen Seite diejenigen, die es über ihre Finanzen oder ihr Wissen bis zum Facharzt schaffen – sofern sie es im hohen Alter noch können.
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
sieht sich als medizinische Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren mehr als 7500 Mitgliedern die Qualität der neurologischen Krankenversorgung in Deutschland zu sichern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist seit 2008 Berlin.
1. Vorsitzender: Prof. Dr. med. Martin Grond
2. Vorsitzender: Prof. Dr. med. Wolfgang H. Oertel
3. Vorsitzender: Prof. Dr. med. Ralf Gold
Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter
Geschäftsstelle
Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531 43 79 30, E-Mail: info@dgn.org
Über die Neurowoche
Die Neurowoche, der größte interdisziplinäre Kongress der deutschsprachigen klinischen Neuromedizin, findet vom 15. bis 19. September 2014 in München statt. Unter dem Motto „Köpfe – Impulse – Potenziale“ tauschen sich bis zu 7000 Experten für Gehirn und Nerven über die medizinischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Neuromedizin aus. Veranstalter ist die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Beteiligt an der Neurowoche sind die Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP), die Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie (DGNN) mit ihren Jahrestagungen sowie die Deutsche Gesellschaft für Neuroradiologie (DGNR) und die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC).
Quelle: idw.de, 16.09.2014
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