Rüstige Rentner: In Deutschland bleiben ihnen weniger gesunde Jahre als im Europa-Schnitt


 

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Jeder hofft, im Alter gesund zu sein: Rentner in Deutschland haben aber im Schnitt deutlich weniger gesunde Jahre vor sich als ihre Altersgenossen in anderen Ländern. Dies zeigt eine OECD-Statistik für Europa.

Den OECD-Gesundheitsdaten zufolge bietet das deutsche Gesundheitssystem eine qualitativ hochwertig Infrastruktur und einen ausgezeichneten Zugang zur Gesundheitsversorgung für die gesamte Bevölkerung“ – mit diesem Kompliment relativierte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Wirtschaftsbericht für Deutschland jene kritische Beschreibung, die der Deutsche Ethikrat zur Krankenhausversorgung in Deutschland nahezu zeitgleich publizierte.

Aber die Perspektiven sind auch unterschiedlich: Während der Ethikrat von einem theoretischen Gerechtigkeitsideal ausgeht, weitet die OECD den Blick auf den Globus und relativiert die nationale Nabelschau.

So viel scheint sicher: Was Angebot, Komfort und Freiheitsgrade angeht, steht das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich in der Spitzengruppe.

Überdurchschnittlich kranke Senioren

Ganz anders sieht es aus, wenn man den Medical Outcome betrachtet und dabei auf den Gesundheitszustand der älteren Bevölkerung fokussiert. Tatsache ist: Unter den führenden Industrienationen sind die Unterschiede in der Lebenserwartung minimal: Betrachtet man fünf europäische Länder, dann lebt ein Franzose, der gerade 65 alt geworden ist, noch 21,7 Jahre.

Sein deutscher Altersgenosse stirbt 2,1 Jahre früher. Ein Brite hat eine genauso lange Restlebenserwartung wie ein Deutscher, der Norweger schafft gerade einmal vier Monate mehr.

Der entscheidende Unterschied liegt in der Zahl gesund verbrachter Jahre im Alter: Und da darf sich der 65-jährige Norweger auf 15 Jahre guter und gesunder Lebensqualität freuen, während sein deutscher Altersgenosse gerade einmal 6,5 Jahre gesund verbringt – fast zwei Drittel seines Ruhestandes aber von Krankheit, Schmerz oder Pflegebedürftigkeit geplagt wird.

Mit dem Ölreichtum der Norweger und vergleichsweise hohen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben lässt sich das nicht erklären.

Schweden und Großbritannien begrenzen die Gesundheitsausgaben in ihren Einheitssystemen durch Priorisierung, Rationierung und Wartezeiten – einen negativen Effekt auf die Gesundheit scheint das nicht zu haben.

Auch die Ausgaben für Prävention bieten keine Erklärung dafür, warum Schweden und Norweger im Alter so lange gesund bleiben, Deutsche jedoch nicht.

Deutschland und Schweden investieren mit jeweils 3,1 Prozent der Gesundheitsausgaben das gleiche in die Prävention, Norwegen mit 2,8 Prozent sogar weniger, und Frankreich liegt gerade mal bei zwei Prozent.

In Deutschland: Höhere Inzidenz bei manchen chronischen Krankheiten

Die OECD stellt fest, dass die Bundesrepublik sich einer Reihe alterungsbedingter Herausforderungen im Gesundheitsbereich gegenüber sieht, deren Ursachen nicht allein in der Medizin zu orten sind.

Schon vor der überdurchschnittlich hohen Krankheitslast im Alter zeichnet sich das Problem ab: „Der Anteil der Personen im Alter von 50 bis 56 Jahren mit schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen ist in Deutschland höher als in vergleichbaren Ländern, wobei je nach sozioökonomischem Hintergrund erhebliche Unterschiede zu beobachten sind“, schreibt die OECD.

Die Inzidenz einiger chronischer Krankheiten, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes und psychische Erkrankungen liegt über dem EU-Durchschnitt, ebenso die Verbreitung von Demenz bei Personen über 65.

Eine Ursache dafür kann die Arbeit sein: Sie ist einerseits maßgeblich für materielle Lebensstandards und Lebensqualität – kann andererseits aber auch Ursache für Stress und schlechten Gesundheitszustand sein. Auffällig ist, was Deutschland vom OECD-Durchschnitt unterscheidet.

Das wird in drei Dimensionen gemessen: Einkommensqualität und Arbeitsmarktsicherheit, Parameter, in denen Deutschland überdurchschnittlich abschneidet. Beim dritten Parameter – der Qualität des Arbeitsumfeldes – liegt der Wert für Deutschland erheblich unter dem OECD-Durchschnitt.

Nur wenige Unternehmen ziehen Psychologen zu Rate

Die OECD nennt dafür folgende Ursachen:

– Nur wenige Arbeitgeber analysieren regelmäßig die Gründe für krankheitsbedingte Fehlzeiten. Der Prozentsatz der Unternehmen, die Psychologen zu Rate ziehen, ist einer der niedrigsten in der EU.

– Es existieren praktisch keine finanziellen Anreize für Unternehmen, betriebliche Prävention anzubieten. Andere Länder wie die Schweiz oder Niederlande kennen Bonus-Malus-Systeme, die über die Invaliditätsversicherung organisiert werden.

– Die staatliche Arbeitsschutzaufsicht wurde in Deutschland zwischen 1995 und 2015 von 4500 auf 3000 Stellen abgebaut – wesentlich wäre aber eine bessere Beratung kleiner und mittelständischer Arbeitgeber.

– Geltende Schutzbestimmungen werden bei Arbeitskräften prekären Beschäftigungsverhältnissen nicht angewendet, Verstöße bleiben häufig sanktionslos.

Aber auch das Verhalten des Einzelnen ist ursächlich dafür, dass Krankheit und Gebrechen vorzeitig auftreten: Rauchen, übermäßiger Alkoholgenuss und Übergewicht sind Gründe für verbreitete und an Bedeutung zunehmende Volkskrankheiten, die zur Frühverrentung und sinkender Lebensqualität im Alter führen.

Ineffiziente Prävention

Mit dem Präventionsgesetz werden zwar nochmals mehr Finanzmittel mobilisiert, um schwerpunktmäßig Prävention in Lebenswelten zu betreiben. Die sich abzeichnenden Programme setzen im Wesentlichen auf Information, Aufklärung, Einsichtsfähigkeit und daraus resultierende Verhaltensänderungen – ein Effekt gerade in vulnerablen Bevölkerungsteilen ist ungewiss.

Mit Ausnahme der Tabakpolitik, die das Instrument der speziellen Verbrauchssteuer gezielt zur Konsumreduzierung durchaus erfolgreich (vor allem bei Jugendlichen) eingesetzt hat, verzichtet die deutsche Gesundheits- und Verbraucherpolitik in allen anderen Konsumbereichen auf diese Option.

Erst jüngst wurde die etwa von der Deutschen Diabetes-Gesellschaft geforderte Zuckersteuer kategorisch abgelehnt. Dabei sind die Preise – vor allem auch für ungesunde Lebensmittel – in Deutschland aufgrund eines knallharten Wettbewerbs auf Handelsebene im Vergleich zu anderen wohlhabenden Industrienationen die niedrigsten unter vergleichbaren europäischen Ländern. Übermäßiger Konsum bleibt zumindest für den Geldbeutel ohne Reue, auch wenn das Einkommen knapp ist.

Diese Inkonsequenz werden große und wachsende Teile der älteren Bevölkerung in zweifacher Hinsicht mit einem hohen Preis bezahlen müssen: eine überdurchschnittlich hohe und lange Krankheitslast im fortgeschrittenen Alter und zunehmende Altersarmut.

Risiko für Altersarmut

Die ökonomischen Effekte von Krankheit im Alter lassen sich schon jetzt im internationalen Vergleich ablesen:

– In der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen liegt der Anteil der Erwerbstätigen in Deutschland bei 69 Prozent, in Schweden bei fast 80 Prozent, in Neuseeland gar bei 86 Prozent. Der Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit dürften dabei ein Faktor unter anderen sein.

– In der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen liegt die Erwerbsquote der Deutschen nur noch bei sieben Prozent, in Großbritannien und Norwegen bei 13 Prozent, in Schweden sogar bei 15 Prozent.

Diese beiden Altersgruppen – ihre Gesundheit und Produktivität – werden für Gesellschaft und Wirtschaft aber zunehmend wichtig, wenn die Folgen des bereits eingetretenen und unabwendbar fortschreitenden demografischen Wandels abgemildert werden sollen.

Die Alternativen sind wenig erfreulich: höhere Beitragslasten für die aktive Generation, wachsendes Risiko für Altersarmut.